Kaminzimmer 2016: Der Kunde von morgen ist überall

Das Shopping-Erlebnis beginnt im virtuellen Showroom, den man per VR-Brille durchstöbern kann. Die Beratung übernimmt ein Avatar mit künstlicher Intelligenz. Und Drohnen liefern die online bestellten Waren dann vor der Haustür ab. Ob unsere Einkaufswelt von morgen tatsächlich so aussehen wird, vermag keiner genau zu sagen – auch nicht die Teilnehmer der
Internet World 2016. Bei den Gesprächen im Kaminzimmer, wo traditionsgemäß hinter die Kulissen des Online-Handels, digitaler Trends und seiner Akteure geblickt wird, waren sich zwar alle Diskussionsteilnehmer einig, dass Virtual bzw. Augmented Reality, künstliche Intelligenz und Wearables das Handelsgeschäft grundlegend verändern und weiter digitalisieren werden. Es wurde aber auch schnell deutlich, dass eine reine Orientierung an technischen Innovationen zu kurz greifen würde.

Denn das Ausmaß der Digitalisierung hängt nicht zuletzt von der Akzeptanz der Kunden und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Bereitschaft ab (Stichwort: Daten-Offenheit, Erlaubnis zur Daten-Weitergabe, usw.).

Stationär versus digital ist out – es lebe die Omnichannel-Journey

Zukunftsforscher Nils Müller von
TRENDONE empfiehlt dem Handel, sich bei der Entwicklung seiner Vermarktungsstrategien von der Frage leiten zu lassen, wo der Kunde der Zukunft anzutreffen ist. Nutzt er bevorzugt sein Smartphone, um Informationen abzurufen und einzukaufen? Ist er ein Freund des virtuellen Schaufensterbummels? Oder geht er doch lieber in ein Geschäft, um sich persönlich beraten zu lassen? Die Antwort darauf: Die Kunden werden alle Optionen situations- und bedarfsabhängig nutzen.

Neue Technologien leisten dabei einen wertvollen Beitrag, um die Vorteile des stationären Handels (persönliche Beratung und “Live”-Erlebnisse, direkte Verfügbarkeit der Waren, regionale Verwurzelung) mit denen des Online-Handels (Auswahl- und Vergleichsmöglichkeit, übersichtliche Suchoptionen, Preis) zu verknüpfen. Es geht also für den Handel nicht um die Frage, ob das stationäre Geschäft überlebt (denn das wird es zweifelsohne, Marktforschungsunternehmen sagen sogar bereits ein
Ende des Online-Wachstums voraus), sondern um ein möglichst gelungenes Zusammenspiel aller Absatzkanäle. Auf der Internet World zeigte der “intelligente Verkaufsraum”
weShop, wie diese Verknüpfung aussehen könnte. Die Unternehmen hinter diesem Konzept betonten im Kaminzimmer auch, dass die eigentliche Kundenbindung nicht durch die Produkte an sich, sondern durch die mit dem Einkauf verbundenen Erlebnisse entsteht.

Auch hinter der stationären Produktpräsentation sollte eine digitale Strategie stehen.


Auch hinter der stationären Produktpräsentation sollte eine digitale Strategie stehen.

Denn durch die Digitalisierung verändert sich nicht nur die Bandbreite der Kanäle, sondern auch die Kundenbeziehung. Die dank Internet allgegenwärtige Verfügbarkeit umfassender Information über Produkte und Services versetzt den Konsumenten in eine machtvolle Position gegenüber dem Handel. Und die zunehmend anspruchsvollen Kunden werden nur dann ihre Kaufabsicht auch wirklich umsetzen und eine gewisse Loyalität gegenüber einer Marke entwickeln, wenn es dem Unternehmen gelingt, an jedem vorhandenen Touchpoint das Kundenerlebnis so überzeugend und aufeinander abgestimmt wie möglich zu gestalten, bestätigt eine aktuelle
Studie von econsultancy.

Der Kunde der Zukunft lebt in “Mikromomenten”

Um den Kunden erfolgreich zu erreichen, muss der Handel dabei extrem flexibel und agil sein, denn die Aufmerksamkeitsspanne der Konsumenten wird immer kürzer. Steven Cook von der Agentur Edenspiekermann sprach folgerichtig auch von den “Micromoments”, die Unternehmen nutzen müssen, um überhaupt mit ihren Botschaften zum Kunden durchzudringen. Das muss für Unternehmen nicht zwangsläufig bedeuten, Kult-Events wie beispielsweise Red Bull aufzubauen. Entscheidend ist eher die Frage, womit sich die Kunden wirklich beschäftigen und welche Bedürfnisse sie haben.

Steven Cook: Aufmerksamkeit ist die neue Währung der Unternehmen


Steven Cook: Aufmerksamkeit ist die neue Währung der Unternehmen

Wo suchen sie nach Informationen, welche Medien und Technologien nutzen sie und welche Angebote rund um ein Produkt oder einen Service können das Kundenerlebnis nachhaltig positiv beeinflussen? Für den (Online-) Lebensmittelhandel funktioniert das laut
bevh-Sprecher Max Thinius zum Beispiel schon durch die simple Verknüpfung von Inhalten, also Rezepte und eine dazugehörige Einkaufsliste passend zu den ausgesuchten Produkten sowie gegebenenfalls die Anzeige der nächstgelegenen Märkte, wo das Produkt verfügbar ist.

Für den Handel bieten sich also durch die Digitalisierung zahlreiche Chancen, die sie aber nur mit der Bereitschaft zur Veränderung ergreifen können. Eine der größten Herausforderungen wird dabei die Geschwindigkeit sein. Denn um die “Mikromomente” zur Kundenansprache und -bindung erfolgreich nutzen zu können, sind täglich neue Mikro-Entscheidungen nötig. Umso wichtiger ist es, neue und bestehende Kunden zu loyalen Markenbotschaftern zu machen. Diese sollen dann ihrerseits die Lanze brechen für die angebotenen Produkte und Services und das damit verbundene “Lebensgefühl”. Dass sich Kundenmeinungen und Empfehlungen gerade online maßgeblich auf die Kaufentscheidung auswirken, wurde von uns schon häufiger kommentiert, zuletzt in diesem
Beitrag.

Bei der gezielten Auswahl und Ansprache von Markenbotschaftern durch Unternehmen werden künftig auch
Social Influencer eine immer wichtigere Rolle spielen. Dank ihrer (vermeintlichen) Authentizität und medialen Reichweite haben sie sich inzwischen zu geschätzten Werbepartnern entwickelt. Selbst traditionsbewusste Unternehmen wie das Münchner Modehaus
Loden Frey nutzen schon seit einiger Zeit den Einfluss der Social Media-Vorreiter. Im Falle von Loden Frey arbeitet man mit Mode- und Fashion-Vloggerin
daaruum zusammen, um sich gerade bei jüngeren Zielgruppen zu positionieren.

Neue Geschäftsmodelle sind gefragt

Unabhängig davon, welche technischen Entwicklungen in den kommenden Jahren die Geschäftswelt noch revolutionieren werden und wie stark die Digitalisierung unsere (Geschäfts-)Welt durchdringt, steht eines fest: die digitale Transformation ist nicht aufzuhalten und Virtual/Augmented Reality, künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge sind letztlich nur eine Weiterentwicklung dessen, was bereits vor einigen Jahren begonnen hat. “Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden”, so die Prognose von
Geile Weine-Finanzchef Alexander Schneider.

Aber die nahtlose Customer Journey mit Einkaufserlebnissen, die im Gedächtnis bleiben sowie das gelungene Zusammenspiel von On- und Offline-Handel können nur dann funktionieren, wenn auch innerhalb der Unternehmen die Bruchstellen überwunden und traditionelle Silos abgebaut werden. Das beginnt bei der abteilungsübergreifenden intelligenten Nutzung der Kundendaten und mündet in einer unternehmensweiten Fokussierung auf die Kundenbedürfnisse.

Sehr spannend in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie es mit dem Thema
Social Selling in den kommenden Jahren weitergehen wird.

Vertreter von Allianz Global Investors, Red Hat, PeopleLinx und LinkedIn sehen Social Selling als wichtiges Tool zur Kundenansprache.


Vertreter von Allianz Global Investors, Red Hat, PeopleLinx und LinkedIn sehen Social Selling als wichtiges Tool zur Kundenansprache.

Noch viel zu häufig werden die Informationen, die Kunden und Geschäftspartner über Social Media preisgeben, von den Unternehmen kaum genutzt, um Beziehungen auf- oder auszubauen. Dabei kann die gezielte Sammlung und Auswertung dieser Daten ein vertrauensvolles Beziehungs-management deutlich erleichtern und den Vertrieb nachhaltig unterstützen, wie diese
Studie von BI Intelligence belegt. Das bestätigt auch
Oliver S. Bauer von Allianz Global Investors: “Der Begriff
Social Selling ist zwar etwas irreführend, denn es ist nicht “sozialer”, vielleicht sogar weniger sozial als andere Vertriebswege. Und es geht auch nicht um den Abverkauf im eigentlichen Sinne, sondern mehr um Presales- und Aftersales-Aktivitäten. Aber auch wenn Social Selling nicht der heilige Gral ist, ist er doch in jedem Fall ein zunehmend bedeutender Teil des gesamten Touchpoint-Puzzles.”

Statt der Überlegung, wie man technologische Neuerungen einsetzen kann, um sich die Arbeit zu erleichtern, sollte für den Handel die Frage im Vordergrund stehen, welche Vorteile der Kunde dadurch hat. Hoffen wir in diesem Sinne, dass die nächste Internet World geprägt wird von innovativen Erfolgsmodellen, die die
“Big Four”, kurz GAFA, nicht nur sinnvoll in ihre Arbeit integrieren, sondern ihnen auch die Stirn bieten können. Wir freuen uns auf jeden Fall darauf, das Kaminzimmer auf der Internet World 2017 wieder zu moderieren.